Was ist die eigentliche Superkraft von ChatGPT und Konsorten? Die grösste Errungenschaft, der grösste Produktivitätssprung von ChatGPT, ist nicht so sehr das inhaltliche Können, sondern dies: Es macht den ersten Schritt! Kennen Sie die Taoismus-Weisheit «Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.» (Laotse)? Wir alle haben doch schon die Erfahrung gemacht, dass es sich anfühlt als hätte man bereits die halbe Wegstrecke geschafft, sobald der erste Schritt gemacht ist. So gesehen ist ChatGPT doch ein psychologisches Wundermittel!
Die Bürde der Aufschieberitis ist kein Jugendphänomen – sie verschwindet leider auch mit dem Älterwerden nicht; jedenfalls was mich angeht. Selbst durch Übung und Erster-Schritt-Erfolgserlebnisse wird sie kaum leichter. Das geben sogar berufsmässig Kreative zu, wie man am Illustrationsbild dieses Beitrags sieht: Der Flix, Protagonist des «Das Glückskind»-Cartoons, sieht seinen nächsten Roman längst vorm inneren Auge, nur will sich der «Erste Satz» einfach nicht auf dem weissen Blatt niederlassen.
Meine erste Nutzung von ChatGPT entsprang genau so einer Situation. Für meinen C1-Italienischkurs galt es das «esame orale» – sprich einen Vortrag – vorzubereiten. Das Thema war sogar selbst gewählt: «Warum geht es der Luxusindustrie in Krisenzeiten so gut?». An Aktualität, Interessantheit und Motivation mangelte es also nicht. Diverse Zeitungsartikel hatte ich ausgeschnitten, einige Links gebookmarkt und ein paar «Search Strings» fürs Googeln waren mir auch eingefallen. Das sieht doch schon nach einem ordentlichen Anfang aus!? NEIN, weit gefehlt, einen Satz zu Papier bringen ist etwas ganz anderes. Der Effort Score dafür ist nahezu unüberwindlich hoch, erst recht in einer Fremdsprache. Obwohl DeepL recht gut ist, wusste ich doch, dass es ein Italienisch produziert, mit dem man sich zwar verständlich machen kann, das aber in den Augen unseres Italienischlehrers – einem Herzblut-Literaturwissenschaftler – keine Gnade finden würde. Ich würde also auch noch meinen Online-Sprachcoach hinzuziehen müssen. Spüren Sie nicht langsam sogar selbst diese gewichtige Bürde an Projekt-Komplexität? Der ideale Nährboden für «Prokrastination».
Und so vergingen die Wochen. Obwohl ich dauernd daran denken musste, blieb es beim weissen Blatt. Hinzu kommt, dass diese chronische Aufschieberitis auch noch eine Teufelsspirale ist – man fühlt sich immer gestresster und genervter über sich selbst. Am Abend vor «dem Tag» blieb dann nur noch das Helferlein ChatGPT. Ich fragte es sogar nach verschiedenen Varianten, wie ich formulieren konnte, seine Hilfe genutzt zu haben: Perfetto! – zwar nur der Disclaimer, aber da waren sie schon, die ersten Sätze. Und inhaltlich sowie sprachlich hat es natürlich zum eigentlichen Thema auch noch brilliert – das wissen Sie ja längst. Last, but not least, hatte sich dank dieses Assistenten auch meine Sorge in Luft aufgelöst, dass ich bei einem selbst kreierten Text nur meine eigenen Fehler auswendig gelernt hätte.
Bemerkenswerterweise ging ich aber nicht um 22 Uhr Schlafen. Denn wenn man erst mal den Anfang gemacht hat, denn geht es fliessend weiter, fast wie von selbst. Es wurde weit nach Mitternacht. Noch diesen und jenen Gedanken einzuflechten, ging plötzlich ganz leicht. Der Wille und die Freude, dem Text durch Umformulierungen eine persönliche Note zu geben, hielten mich wach; ich konnte einfach nicht loslassen. Der Text wurde schliesslich «mein Baby». Das war die Nacht im Mai, in der mir das Licht aufging: Ich habe meine digitale Pille für die Aufschieberitis gefunden – Yeah! Und ich bin sogar überzeugt, mit ihr wird das ein Engelskreis fürs Lernen und Arbeiten. **PS
**PS: Tja, nur leider werden uns die Spielverderber-Nutzer das Gute daran sicher bald verleiden. Denn bald werden wir die Folgekosten dieser neuen Leichtigkeit spüren: «The marginal cost of plausible bullshit is now effectively zero.» (John Horton, 2023: https:// t.co/iw6XZjoFqj)
Autor: Prof. Dr. Andrea Back
Tags: Kolumne
2 Kommentare
Jürgen Lauber
Das war eine interessanter und neuartiger Blickwinkel auf ChatGPT. Sehr anregend. Der “Post-script” Teil war sehr guter Abschluss. Und wann kommt der Leitartikel zum Thema “Digitale Demenz”. Leider bzw. zum Glück ist unser Verstand mit Neuroplastizität ausgestattet.
Prof. Dr. Andrea Back
Ja Jürgen, es bleibt spannend. Auch wenn das Schreiben an Leichtigkeit gewinnt, Lesen und Mitdenken müssen wir immer noch selbst. Danke fürs “Deep Reading”, Andrea