Das Web hat ein Messie-Syndrom

Beim Menschen spricht man von Messie-Syndrom, wenn jemand übermässig Gegenstände hortet. Trifft diese Definition nicht genauso auf das Web zu? Da sammelt sich übermässig viel mehr oder weniger wertloser Content an. Bei Menschen-Messies liegt es an der Unfähigkeit, sich von etwas wieder zu trennen und Ordnung zu halten. Beim Web sind die beiden Features «Content entsorgen» und «Ordnung halten» gar nicht vorgesehen – es scheint ja ganz gut ohne sie auszukommen. Genau das will ich aber, gestützt auf nachfolgenden Erfahrungsbericht, in Frage stellen.

Für zwei eigentlich einfache Aufgaben suche ich Antworten im Netz. Denn auch mich hat das Fieber gepackt, mehr Videos in meiner Lehre zu verwenden – und dafür muss ich dazulernen. In Powerpoint (PPT) eingefügt sollen online Youtube -Videos gezeigt werden, aber eben jeweils nur ein kurzer Ausschnitt. Deren Startzeitpunkt ist ganz einfach festzulegen, aber der Ende-Parameter von «start=60&end=74» wird von PPT ignoriert. Natürlich finden sich beim Googeln zahlreiche Einträge von Leuten, die sich ebenfalls wundern, dass das Youtube-Video nicht anhalten will, und entsprechend auch viele Lösungstipps. Ich lese also einen Foreneintrag nach dem anderen und probiere das Empfohlene aus – erfolglos. Also Weitergoogeln und Erklärvideos schauen. Diese Lösungswege zu befolgen klappt auch nicht. Hartnäckig probiere ich noch diverse Sonderzeichenvarianten, weiss ich doch vom Programmieren, dass es auf jedes «Komma» ankommt. Schliesslich gebe ich auf – es geht einfach NICHT. All diese vielversprechenden Pseudo-Antworten sind nicht gültig – wenn sie es denn jemals waren. D.h. das Web hat mich in so viele Sackgassen laufen lassen, ohne jede vorwarnende Beschilderung. Niemand löscht so etwas; man kann nicht einmal ein Zeichen setzen, das andere davor bewahrt, diese Irrwege überhaupt zu beschreiten. Eher im Gegenteil ist es vermutlich so, dass noch mehr Leute dahin geschickt werden weil ich dort war, denn diese Seitenbesuche legen einen «digitalen Trampelpfad» an, dem andere vertrauensvoll folgen.

Mit meinem zweiten Problem läuft es ähnlich. Ich Google, wie man einen Ausschnitt aus einem Online-Video machen und herunterladen kann. Freudig findet man, dass es mehrere Lösungswege dafür gibt. In der PPT-Bildschirmaufzeichnung fehlt dann aber der Ton; und wagt man sich in aufkommender Verzweiflung an Onlinedienste wie getfromyt oder youtubecutter, die potentiell Virenträger sein könnten, dann findet man schon manche die funktionieren. Aber bei allen, die ich ausprobiert habe, müsste man am Anfang die Aufzeichnungsverzögerung einplanen und wegschneiden. (Mac-User mögen jetzt voller Genugtuung lachen, aber als Windows-Nutzer mit einem normalen PC ist das nicht so einfach. **). Auch hier sind all diese Fehlinformationen wie Fallen, in die wer weiss wie viele Nutzer tappen, ohne dass sie jemals weggeräumt würden.

Daher kommt also meine Behauptung: Das Web hat ein Messie-Syndrom. Damit aber nicht genug, denn es ist noch steigerungsfähig. Laut Wikipedia-Erklärung kommt es schliesslich zum Vermüllungssyndrom: Die Wohnung ist dann teils nicht mehr begehbar. So sehe ich es auch mit dem Web kommen – irgendwann hat sich so viel Unnützes angesammelt, dass es kippt wie ein Ökosystem. In dieser Einschätzung fühle ich mich durch das bestärkt, was kürzlich in Daniel Kehlmanns Zukunftsrede «Können Computer Romane schreiben?» zu erfahren war. Er berichtete am 9. Februar in einem 2-stündigen Vortrag von seiner Erfahrung, zusammen mit der maschinellen Intelligenz namens «Control» ein schriftstellerisches Werk zu kreieren. Und das ging so: Er tippt einen oder zwei Sätze ein und übergibt dann an seinen Robo-Schriftstellerkollegen Control, den Faden weiter zu spinnen. Anschliessend gibt Kehlmann wieder 1-2 eigene Sätze ein usw. Control wählt dabei Satzstücke aus einer riesigen Sammlung von schon einmal Geschriebenem aus. Die Geschichten aus diesem Wechselspiel lesen sich sogar überraschend und richtig spannend, jedenfalls in den ersten paar Runden. Je weiter die Geschichte voranschreitet, umso wortkarger und desorientierter wird Control (siehe Bild), bis die «maschinelle Intelligenz» richtiggehend ins Stottern kommt und schliesslich hängt wie eine Schallplatte.

Je mehr Story-Content schon da und zu bedenken ist, umso schwerer scheint es Control zu haben, bis es schlussendlich am Zuviel des Wissens regelrecht erstickt. Ja und genauso stelle ich mir das mit dem Web vor. Irgendwann ist es so vermüllt, dass es unbenutzbar wird. Man wird immer noch «Ich-habs-gefunden»-Erlebnisse haben, aber insgesamt wird es so sein, wie Kehlmann die Arbeit mit seinem Robo-Kollegen beschreibt (1:02:55): «Als spräche man mit einem Verrückten, der auch luzide Momente haben kann».

**Wie es dann doch geht? Drücken Sie mal Windowstaste+G (mit der Gamebar klappt es)


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Tags: Kolumne



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