Es regnet in Zermatt, und so lese ich am Kamin im Buch zum 150 Jahre Jubiläum der Erstbesteigung des Matterhorns. Kaum 20 Seiten durchgeblättert, und ich bin gefangen wie von einem spannenden Krimi. Dieser Unternehmungsgeist, die Expeditionen ins Unbekannte und Riskante, das fasziniert mich – sie sind so überaus aktuell. Beim Lesen fallen mir laufend Analogien zum heutigen Entrepreneurship und der Startup-Welt ein. Zum Beispiel war es damals ein “Grand Challenge”, diesen für unmöglich besteigbar gehaltenen Gipfel zu erklimmen; auch heute gibt es diese Grand Challenges – im Silicon Valley nennt man sie “Moonshot-Projekte”.
Wir denken ja sehr gerne, dass heute vieles innovativ und so noch nie dagewesen wäre. Man darf das bezweifeln. Denn was sich da vor 150 Jahren abgespielt hat, lässt sich mühelos im Lean-Startup-Jargon beschreiben (Das Buch The Lean Startup wird heute vielerorts in der Management-Ausbildung verwendet).
Auf S. 112 steht zum Prinzip “Commitment to iteration”: If your MVP (Minimal Viable Product) fails, don’t give up hope. Was denken Sie, wie viele Versuche gab es, bevor die Erstbesteigung gelang? Der Erfolg kam erst mit der achtzehnten Iteration. Viele davon hat Whymper, der es am 14. Juli 1865 mit seinem Team als Erster schaffte, auch selbst unternommen.
Und Pivoting hat sich als Erfolgsfaktor erwiesen. Auf S. 153 von «The Lean Startup» heisst es, dass die schwierigste Entscheidung die zwischen “persevere or pivot” sei. Beim Matterhorn glaubten alle an die Hypothese, dass der Gipfel nur von der italienischen Seite aus über den Liongrat zu erreichen wäre. Aber Whymper hatte die Idee, dass es über die Schweizer Seite, den Hörnligrat gehen müsste, nachdem er bei einer Bergumrundung aus einem besonderen Blickwinkel gesehen hatte, dass eine Stelle weniger steil war als angenommen. Als er dann Mitte Juli hörte, dass eine Seilschaft zum Liongrat aufbrechen würde, setzte er auf diese neue Hypothese – und war erfolgreich. Wohlgemerkt, das war kein Bauchgefühl und keine Eingebung von ihm, sondern eine datenbasiert fundierte Entscheidung.
Wer war eigentlich dieser Edward Whymper? Ein Einheimischer, einschlägig jahrelang als Bergführer tätig, in reifem Alter? Was denken Sie, wie alt dieser Matterhorn-Entrepreneur war, und in welcher Branche berufstätig? Nun, beim Erfolg ist er 25 Jahre, und beim ersten Versuch 1861 war er junge 21. Zudem ist er von Beruf Zeichner gewesen, also eher ein Quereinsteiger, was man von Start-up-Entrepreneuren auch oft hört.
Allein hat er das natürlich nicht geschafft. So wie heute die besten Programmierer umworben werden und die Seiten wechseln, war es damals mit den Bergführern. Die Rivalen um die Erstbesteigung haben sich die Fähigsten gegenseitig abgeworben. Last, not least, spielt beim Antrieb zu solchen Grosstaten auch die Selbstdarstellung mit: Die Devise “Tue Gutes und rede darüber” galt auch damals. Heute twittert, wer auf Expedition zu den Gipfeln der Digitalisierung ist, oder postet auf LinkedIn oder Medium. Und wie schrieb man Tweets oder Posts vor 150 Jahren, auch mit dem Wunsch, dass sie – wie im Netz – nie mehr ganz verschwinden mögen? Die Aufstiegskonkurrenten habe ihre Initialen in die Felsen gehämmert. Whymper hat seine und die seines Begleiters auf dem 14. Besteigungsversuch ein paar Meter über die von Carrel eingemeisselt.
Das Begleitbild zur Kolumne – mit dem gerissenen Seil von der Tragödie beim Abstieg – warnt davor, im Erfolgstaumel leichtsinnig zu werden. Sie hatten genug Seile dabei, aber es nicht für notwendig gehalten, sich zusätzlich zu sichern. Vier vom Team stürzten in den Tod. Direkt bei der Kirche in Zermatt ist ein Bergsteigerfriedhof. Man behält Frauen und Männer, die beim Bergsteigen ihr Leben lassen mussten, in ehrenvoller Erinnerung. Eine Entsprechung in der Startup-Welt ist mir nicht bekannt. Es gibt da beim Absturz ja auch keine Toten, aber so manche Hoffnungen und Träume, private Vermögen und bestimmt auch Liebesbeziehungen müssen doch begraben werden. Eine besondere Form des Andenkens daran fände ich gut.
Autor: Prof. Dr. Andrea Back
Tags: Kolumne